Gaia-Atlanten

Laut der Gaia-Hypothese ist „Gaia autopoietisch — selbstbildend, grenzerhaltend, kontingent, dynamisch und nur unter bestimmten Bedingungen stabil. Gaia ist nicht auf die Summe ihrer Teile reduzierbar, sondern erreicht endliche systemische Kohärenz angesichts von Störungen und innerhalb von Parametern, die wiederum selbst responsive und dynamische Systemprozesse sind.

Donna J. Haraway 2018, 65


Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der Gaia-Hypothese in diesen wissenschaftshistorisch angelegten Atlanten sind die Schriften zweier Science and Technology Studies (STS) Forschenden: Die 2017 von Bruno Latour veröffentlichte Schrift Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime sowie die 2018 erschienene Monografie von Donna Haraway Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Dabei geht es in diesen Atlanten darum, einer »travelling theory« und einem »nomadic theorizing« (Perry 1995) Ausdruck zu verleihen. Das heißt Reisebewegungen theoretischer Konzepte zu verdeutlichen, die im Zuge der Gaia-Hypothese seit dem 19. Jahrhundert von Eurasien über Südamerika und die USA in unterschiedlichen geografischen und intellektuellen Zirkeln Verbreitung fanden und bis heute kursieren. In Rekurs auf die griechische Erdgöttin Gaia trägt sowohl Haraway als auch Latour diese global zirkulierenden Konzepte hinein in zeitgenössische Diskurse, die in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre ökologische Debatten über die Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Umweltpolitik und Forderungen nach einem verändernden Klimaregime vorantreiben. Greta Thunbergs Worte »Ich möchte, dass ihr in Panik geratet.«, die sie 2019 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos formulierte, treffen mitten ins Herz dieser Aufbruchstimmung. Die Ignoranz der älteren Generation gegenüber den drohenden Desastern, die aus einem auf Eigennutz und Raubbau fokussierten Handeln der Erde gegenüber resultierten, lehre die Jüngeren das Fürchten. Im Philosophie Magazin (03/2019) werden die Jugendlichen der von Thunberg inspirierten Fridays-for-Future-Demonstrationen als »Generation Gaia« bezeichnet. Es sei eine Generation, so schreibt Dominik Erhard, die »einen Bruch mit der Logik steter Disruption und eine Hinwendung zur nachhaltigen Bewahrung der Grundlagen alles Lebens« forderten (Erhard 2019).

Was kann die Gaia-Hypothese zu diesen Debatten beitragen? Im Weiteren werden unterschiedliche wissenschaftshistorische Phasen beleuchtet, die zur Entwicklung dieser Hypothese entscheidend beitrugen und verschiedene Terminologien ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben. Dabei werden die nachfolgenden Auseinandersetzungen von zwei Aspekten begleitet.
Zum einen: Um die Hypothese und die ihr verwandten Evolutionskonzepte zu verstehen, ist es entscheidend, sich darüber im Klaren zu werden, vor welchem Hintergrund sich diese naturwissenschaftlich-philosophischen Forschungszweige entwickelten. Auf welche gesellschaftspolitische Atmosphäre und auf welchen (populär-)wissenschaftlichen Mainstream traf die Rede von Gaia?
Zum anderen: Gaia ist nicht nur als eine matriarchale Form der Natursymbolik von Interesse für die Genderforschung, sondern darüber hinaus, weil diese Theorie einen interdisziplinären Ansatz im Dialog zwischen den Naturwissenschaften mit den Geistes- und Kulturwissenschaften vertritt, der strukturelle Parallelen zur Genderforschung im Bereich Nachhaltigkeit und (Bio-)Diversität aufweist.

Beide Aspekte fließen im Folgenden in die Beschäftigung mit den verschiedenen Phasen ein, die sich seit der so genannten »Sattelzeit« (Koselleck 1979), zu Zeiten des Hochimperalismus und revolutionärer Umbrüche alternativ zum Neo-Darwinismus interdisziplinär ausgestaltet haben:


Phase I: Vladimir Iwanowitsch Vernadski – Noosphäre

Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Geologe, Mineraloge und Begründer der Geochemie Vladimir Iwanowitsch Vernadski die Begriffe der Noosphäre (altgr. νοuς, nous, ›Geist‹, ›Verstand‹) und Biosphäre (altgr. βίος bíos, bios, ›Leben‹). Die Biosphäre beschreibt Vernadski als permanente biologische, geologische und chemische Umwandlungsprozesse, die sich angetrieben von der Sonnenenergie vollziehen würden. Die Noosphäre stellt demgegenüber eine durch geistige, kulturelle Aktivität transformierte Sphäre des Lebendigen, das heißt der Biosphäre dar.
Vernadski vertrat seine Ideen unter anderem an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften (AdW) wie auch an der Sorbonne in Paris. 1945, kurz vor Vernadskis Tod verhalf George Evelyn Hutchinson, der später Haraways Doktorvater wurde, die Thesen des russischen Forschers zu veröffentlichen. Im American Scientist erschienen sie unter dem Titel The Biosphere and Noosphere (vgl. Margulis 2016, 67). Damit erreichten Vernadskis Überlegungen weite Verbreitung über Eurasien hinaus. Bis heute ermöglichen sie es, eine naturwissenschaftlich-philosophische Rahmung der Gaia-Hypothese vorzunehmen. Eine solche Rahmung soll skizziert und im Kontext derzeit aktueller Terminologien wie Anthropozän und Haraways Begriff der natureculture erörtert werden.


Phase II: James Lovelock und Lynn Margulis – Symbiogenese

Im Kontext eines solchen – naturwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Reflexionen zusammenführenden – Verständnisses von der Erde stehen schließlich die Gedanken, die der britische Chemiker, Mediziner und Biophysiker James Lovelock zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gaia-Hypothese bezeichnete und gemeinsam mit der USA-amerikanischen Evolutionsbiologin Lynn Margulis ausdifferentierte. Margulis schreibt: »The concept of ›Gaia‹, an old Greek name for Mother Earth, postulates the idea that the Earth is alive. The Gaia hypothesis, proposed by the English chemist James E. Lovelock, is that aspects of atmospheric gases and surface rocks and water are regulated by the death, growth, metabolism, and other activities of living organisms. […] All organisms are touching because all are bathed in the same air and the same flowing water.« (Margulis 1999, 2) Auf der Basis von Lovelock und Margulis geht es in diesem Kontext vor allem um eine Auseinandersetzung mit Konzepten wie die der Ko-Evolution und Symbiogenese. Dabei stellen sie dem konventionellen Verständnis des Darwinismus, das vorrangig auf einer Genetik des Egoismus beruhte (vgl. Darwkin 1976), eine Genetik gegenüber, die von Kooperation geprägt sei. Margulis sprach sich explizit gegen den kapitalistischen Zeitgeist des Neo-Darwinismus aus. Mit ihr lässt sich fragen, inwiefern dieser mit der Marktwirtschaft und Ausbeutung der als weiblich imaginierten Natur eine Allianz bildeten? Um sich dieser Frage zu nähern, soll Carolyn Merchants 1980 publiziertes Buch Death of Nature hinzugezogen werden, in dem die Naturwissenschaftshistorikerin dem durch Industrialisierungsprozesse veränderten Naturverständnis der Moderne sowie der darin verwendeten und deutlich gegenderten Metaphorik, beispielsweise im Kontext des Bergbaus, nachforscht.


Phase III: Francisco Verela und Humberto Maturana – Autopoiesis

Auf die initiale Phase der Gaia-Hypothese, die vor allem zwischen Universitäten in Großbritannien, der amerikanischen Ostküste und Spanien kursierte, folgt in einem dritten Schritt eine Zeit, in dem der Terminus Autopoiesis, wie er von den chilenischen Biologen und Kognitionswissenschaftlern Francisco Varela und Humberto Maturana nach dem Zweiten Weltkrieg mittels kybernetischer Modelle geprägt wurde. Die Forscher wirkten von der Universität in Santiago de Chile über das MIT in Cambridge Massachusetts sowie über die Macy-Konferenzen in New York bis nach Frankfurt und Paris. Innerhalb dieser unterschiedlichen intellektuellen Zirkel eröffnete die Auseinandersetzung mit Gaia ebenfalls anthropologische Fragestellungen im Zeitalter technowissenschaftlicher Entwicklungen, die nach 1945, während des Kalten Kriegs von einer rasanten Beschleunigung und internationalem Wettrüsten geprägt waren. Die Rolle der Forschenden selber wird von Varela und Maturana thematisiert, was damals keine Selbstverständlichkeit war, jedoch ihrem Wissenschaftsverständnis Ausdruck verlieh, das auf enaktiver Verkörperung beruhte. Erneut kann in diesem Kontext der Bogen zu Vernadskis Noosphäre gespannt werden. Reflexionen des kybernetischen Anthropologen Gregory Bateson und die von Margret Mead fließen an dieser Stelle ebenso mit ein. Auf dieser Grundlage soll es sodann um die vierte Phase gehen, in der die eingangs genannten Schriften von Haraway und Latour von zentraler Bedeutung sind.


Phase IV: Bruno Latour und Donna Haraway – Gaia als Figur des Terrestrischen im Chthuluzän

In diesem letzten Part stehen folgende Fragen im Mittelpunkt des Interesses: Was bedeutet es für die Menschen, wenn sie die Erde nicht objektivieren oder als tote Materie begreifen, sondern sie sich als einen Organismus vorstellen, zu dem sie in einem unmittelbaren Wechselverhältnis stehen? Welches Verständnis von Kommunikation, Interaktion und Feedbackmechanismen geht mit der Gaia-Hypothese einher? Wie lässt sich Angesichts dessen das Verhältnis von Innen- und Außenwelt begreifen? In welche Beziehungen zu anderen menschlichen und nicht-menschlichen Organismen sind wir wie verflochten? Und wie können wir uns eine posthumane Welt vorstellen, in der wir mit und nicht gegen Gaia agieren, das heißt, in der wir vielfältige autopoietische Prozesse befördern? In welchen akademischen Zirkeln war und ist Gaia verortet und welche Transformationen hat sie als Denkfigur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert erfahren?
In Rückbezug auf Latour und Haraway soll Gaia mit dem Modell des kybernetischen Organismus, der Cyborg, kontrastiert sowie im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) diskutiert werden. Inwieweit wird durch Gaia als eine »terrestrische Denkfigur« ein Ineinandergreifen sozialer mit ökonomischen und ökologischen Sphären betont, die den Blick für Visionen eröffnet? In der gendersensiblen Nachhaltigkeits- und (Bio-)Diversitätsforschung wurde dem Wechselspiel von Bio- und Noosphäre sowie dem Dialog zwischen Gesellschaftstheorie, Ökonomie und Ökologie von Beginn an besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Mangelsdorf/Pregernig & Kuni 2016). Deswegen soll auf diese Ansätze vertiefend eingegangen werden, unter anderem mit: Banu Subramaniams Ghost Stories for Darwin (2014) und Joan Roughgardens Rainbow Evolution (2004).


Ausblick

Die Gaia-Atlanten werden am Ende dieser wissenschaftshistorischen Ausführungen mit Reflexionen zur Medienökologie im Dialog mit dem künstlerisch forschenden Projekt De/Globalize verbunden (vgl. Mariadaas). Dabei soll die Ambiguität und Vielschichtigkeit der Gaia-Figur für ein verändertes Verständnis des Selbst- und Weltbezugs sowie für Diskussionen über differente Wissenskulturen im Austausch verschiedener Genre und Wissenschaftsdisziplinen genutzt werden. Nicht zuletzt, um mit Gaia eine »Schwamm-Intelligenz« und ein Bewusstsein vergleichbar eines Myzels auszubilden (vgl. Tsing 2018).

Anmerkung

Der Begriff der Schwamm-Intelligenz stammt von Ilka Becker. Sie verwendete ihn für ihre Präsentation im Rahmen des Workshops Ästhetik und Kommunikation der Arten am 18. und 19. Dezember 2018 an der Goethe Universität in Frankfurt am Main (vgl. auch Becker 2009, 2010).





Literatur

  • Becker, Ilka (2009) »Protosphären. Künstliche Biosphären als Prototypen der Welt«. In: Ulrike Bergermann u.a. (Hg.) Prototypisieren. Eine Messe für Theorie und Kunst. Bremen. 13–24.
  • Becker, Ilka (2010) »Mapping impossible? Planetarische Überlebenscontainer in Wissenschaft, Architektur und Science-fiction-Film«. In: Ulrike Bergermann/Isabell Otto/Gabriele Schabacher (Hg.) Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter. München. 97–115.
  • Erhard, Dominik (2019) »Generation Gaia«. In: Philosophie Magazin, Heft 3.
  • Friedrich, Alexander/Löffler, Petra/Schrape, Niklas & Sprenger,Florian (2018): Ökologien der Erde. Zur Wissensgeschichte und Aktualität der Gaia-Hypothese. meson press eG.
  • Jaques Grinevald: Die Gaia-Hypothese. Eine Geophysiologie der Biosphäre, erschienen in Hagia Chora 15/2003.
  • Haraway, Donna (2018) Unruhig bleiben. Frankfurt M./New York: Campus Verlag.
  • Alexandre Lacroix im Gespräch mit Bruno Latour: Die Natur muss ins Parlament, philosophie Magazin online.
  • Latour, Bruno (2017) Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Frankfurt M.: Suhrkamp.
  • Latour, Bruno (2017) Kampf um Gaia. Im Zeitalter der ökologischen Krise, Deutschlandfunk 24.9.
  • Mangelsdorf, Marion/Pregernig, Michael/Kuni, Verena (2016) „Introduction: (Bio-)Diversity, Geschlecht and Intersectionality“. In: Freiburger Zeitschrift für Geschlechterstudien 22(2): 5–15.
  • Margulis, Lynn (1999) The symbiotic Planet. A new look at Evolution. New York: Basic Books.
  • Margulis, Lynn (2016) »Living by Gaia«. In: Jonathan White. Talking on the Water. Conversations Nature & Creativity. Texas: Trinity University Press.
  • Mariadass, Vasanthi (2019) Gaiagraphy (workshop-paper).
  • Merchant, Carolyn (1990) The Death of Nature: Women, Ecology, and the Scientific Revolution. New York: HarperCollins Publisher
  • Perry, Nick (1995) Travelling Theory/Nomadic Theorizing. In: Organization 2(1): 35-54.
  • Pitt, David & Samson, Paul R. (1998) The Biosphere and Noosphere Reader: Global Environment, Society and Change. New York: Routledge.
  • Roughgarden, Joan (2004) Rainbow Evolution. Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People. London: University of California Press.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt (2018) Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: Matthes & Seitz.
  • Vladimir I. Vernadsky (1998) The Biosphere. New York: Springer Verlag.
  • Worthy, Kenneth/Allison, Elizabeth & Bauman, Whitney (2018) After the Death of Nature Carolyn Merchant and the Future of Human-Nature Relations. New York: Routledge.

Filme




Foto: © Screenshot from Craig Smith Reel for Anupama

mit freundlicher Genehmigung des Künstlers